Monie macht’s möglich

Meine Mutter hatte eine Großtante, die außerhalb von Cleveland wohnte und uns einmal in Binghamton, New York besuchte. Ich war damals sechs Jahre alt, aber ich erinnere mich noch genau, wie ihr Wagen in unsere frisch gepflasterte Auffahrt einbog. Es war ein silberner Cadillac, an dessen Steuer ein Mann mit einer flachen Kappe saß, in der Art einer Polizeimütze. Er öffnete mit weit ausladender Geste die hintere Tür, als handle es sich um eine Kutsche, und wir sahen die Schuhe der Großtante, die orthopädisch, aber doch elegant waren, aus feinstem Leder gearbeitet und mit spitzen Absätzen in der Größe von Garnspulen. Den Schuhen folgte der Saum eines Nerzmantels, die Spitze eines Gehstocks und zuletzt die Großtante selbst, die groß war, weil sie reich war und keine Kinder hatte.

»Ach, Tante Mildred«, sagte meine Mutter, und wir starrten sie verdutzt an. Sonst hieß sie immer nur »Tante Monie«, ein Mittelding aus mosern und money, und ihr tatsächlicher Name war neu für uns.

»Sharon!«, sagte Tante Monie. Sie sah unseren Vater und dann uns an.

»Das ist mein Mann, Lou«, sagte meine Mutter. »Und das sind unsere Kinder.«

»Wie reizend. Eure Kinder.«

Der Fahrer übergab meinem Vater mehrere Einkaufstaschen und ging zurück zum Wagen, während wir ins Haus traten.

»Möchte er vielleicht das Bad benutzen?«, fragte meine Mutter. »Ich meine, er kann selbstverständlich...«

Tante Monie lachte, als hätte meine Mutter gefragt, ob der ganze Wagen ins Haus kommen wolle. »Oh, nein, Liebste. Der bleibt draußen.«

Ich glaube nicht, dass mein Vater sie durchs Haus führte, wie er es bei den meisten Besuchern tat. Er hatte einige Dinge am Haus selbst gemacht und hob gerne hervor, wie es ohne seine Initiative ausgesehen hätte. »Hier zum Beispiel«, sagte er, »habe ich die Feuerstelle für den Grill gleich in die Küche verlegt, weil man da näher am Kühlschrank ist.« Die Gäste gratulierten ihm zu seinem Einfallsreichtum, und es ging weiter mit der Frühstückslaube. Ich kannte nicht viele Häuser, aber mir war klar, dass unseres sehr hübsch war.

Vom Wohnzimmerfenster aus blickte man auf den Garten hinterm Haus, und dahinter lag ein tiefer Wald. Im Winter kamen Rehe und beschnupperten das Vogelhäuschen, ohne sich um die Fleischstreifen zu kümmern, die meine Schwestern und ich als Leckerbissen für sie ausgelegt hatten. Selbst wenn kein Schnee lag, war der Ausblick beeindruckend, aber Tante Monie schien sich nicht dafür zu interessieren. Ihr einziger Kommentar betraf unser goldenes Wohnzimmersofa, das sie offenbar sehr amüsierte. »Du lieber Himmel«, sagte sie zu meiner vierjährigen Schwester Gretchen. »Habt ihr das selbst ausgesucht?« Sie lächelte kurz und unbeholfen, als arbeite sie daran und brauche noch etwas Übung. Die Mundwinkel gingen nach oben, aber ihre Augen kamen nicht mit.

Anstatt zu glänzen, blieben sie stumpf und ausdruckslos wie alte Münzen.

»Na schön«, sagte sie. »Wollen wir mal sehen, was wir da haben«. Der Reihe nach ließ sie meine Schwestern und mich vortreten und drückte uns unverpackte Geschenke aus einer bunten Einkaufstasche in die Hand, die vor ihr auf dem Boden stand. Die Tasche stammte von einem Kaufhaus in Cleveland, das ihr viele Jahre lang gehört hatte, zumindest ein Teil davon. Es war im Besitz ihres ersten Mannes gewesen, nach dessen Tod sie einen Werkzeug- und Stempelfabrikanten geheiratet hatte, der seinen Betrieb später an Black & Decker verkaufte. Auch er war gestorben, und sie hatte alles geerbt.

Ich bekam von ihr eine Marionette. Kein billiges Massenprodukt mit einem schiefen Plastikgesicht, sondern eine aus Holz, bei der jedes einzelne Gelenk durch feine Häkchen mit einer schwarzen Kordel verbunden war. »Das ist Pinocchio«, sagte Tante Monie. »Seine lange Nase hat er vom vielen Lügen. Und du, flunkerst du auch hin und wieder ganz gerne?« Ich wollte antworten, doch sie hatte sich schon meiner Schwester Lisa zugewandt. »Und wen haben wir hier?« Es war wie ein Besuch beim Weihnachtsmann, oder eher, als sei der Weihnachtsmann zu Besuch. Sie gab jedem von uns ein teures Geschenk, und dann ging sie ins Badezimmer, um sich die Nase zu pudern. Bei den meisten Leuten war das nur eine Redensart, aber als sie herauskam, war ihr Gesicht wie mit Mehl bestäubt, und sie roch intensiv nach Blumen. Meine Mutter bat sie, zum Mittagessen zu bleiben, doch Tante Monie sagte, das ginge nicht. »Es ist wegen Hank«, erklärte sie. »Die lange Fahrt, unmöglich.« Hank war offenbar der Fahrer, der im gleichen Moment losspurtete und die Wagentür öffnete, als wir aus dem Haus kamen. Unsere Großtante ließ sich auf den Rücksitz sinken und legte eine Felldecke über ihren Schoß. »Sie können die Tür jetzt schließen«, sagte sie, und wir standen in der Auffahrt, und meine Marionette winkte ihr zum Abschied steif hinterher.

Ich hoffte, Tante Monie käme nun regelmäßig, doch blieb dies ihr einziger Besuch. Ein paar Mal im Jahr, meistens an Sonntagnachmittagen, rief sie an und wollte meine Mutter sprechen. Die beiden redeten ungefähr eine Viertelstunde, aber es schien sich nie um ein fröhliches Gespräch zu handeln, wie wenn sie mit meiner eigentlichen Tante telefonierte. Anstatt zu lachen und mit der freien Hand eine Locke ins Haar zu drehen, drückte meine Mutter nur ein Stück des Telefonkabels zusammen und hielt es in der Faust wie einen Stapel Münzen. »Tante Mildred«, sagte sie. »Wie schön, dass du anrufst.« Wollte man mithören, schob sie einen mit dem bloßen Fuß fort. »Nichts. Ich sitze bloß hier und beobachte das Vogelhäuschen. Du magst Vögel, oder?... Nein? Ach, ehrlich gesagt, ich auch nicht. Lou findet sie interessant, aber... genau. Reich ihnen den kleinen Finger, und sie nehmen die ganze Hand.«

Es war, als würde man sie nackt sehen.

Als ich mit einer Jugendgruppe nach Griechenland reiste, bezahlte Tante Monie den Flug. Da nicht davon auszugehen ist, dass sie am Telefon fragte, wie sie mir eine Freude machen könne, nehme ich an, meine Mutter brachte das Gespräch darauf, wie man das tut, wenn man hofft, der andere werde seine Hilfe anbieten. »Lisa darf mit, aber David muss bei den hohen Kosten noch ein paar Jahre warten. Du willst was? Oh, Tante Mildred, das kann ich nicht annehmen.«

Zuletzt konnte sie doch.

Wir erfuhren, dass Tante Monie jeden Abend Lammkoteletts aß. Jedes Jahr kaufte sie sich einen neuen Cadillac. »Das muss man sich mal vorstellen«, sagte mein Vater. »Fährt vielleicht zehntausend Meilen mit dem Schlitten, und dann zieht sie los und kauft sich einen neuen. Versucht vermutlich nicht einmal den Preis zu drücken.« Für ihn war es schierer Wahnsinn, doch für den Rest von uns war es der Inbegriff von Klasse. Genau darin bestand der Luxus von Geld: sich Dinge anschaffen zu können, ohne um Rabatte oder Monatsraten bei möglichst niedrigen Zinsen feilschen zu müssen. Mein Vater gab unseren alten Kombi in Zahlung und bearbeitete dann monatelang die Verkäufer, bis sie alles taten, um ihn loszuwerden. Er verlangte und bekam tatsächlich auch eine verlängerte Garantie auf unseren Kühlschrank, offenbar mit dem Hintergedanken, dass, sollte das Gerät im Jahr 2020 lecken, er sich aus seinem Grab erheben und es eintauschen konnte. Für ihn bedeutete Geld einzelne Dollars, die sich langsam wie Tropfen aus einem undichten Wasserhahn ansammelten. Für Tante Monie war Geld eher wie ein Ozean. Man gab es in hohem Bogen aus, und ehe noch die Rechnung geschrieben worden war, krachte auch schon die nächste Woge an den Strand. Das war das Schöne an Dividenden.

Im Gegenzug für mein Ferienlager in Griechenland wollte meine Mutter,

dass ich ihrer Tante einen Dankesbrief schrieb. Es war nicht zu viel verlangt, aber sosehr ich mich auch anstrengte, ich kam einfach nicht über den ersten Satz hinaus. Ich wollte Tante Monie davon überzeugen, dass ich besser als der Rest meiner Familie war, dass ich den Kauf eines Cadillacs zum Listenpreis und eine Vorliebe für Lammkoteletts verstand, aber wo anfangen? Ich dachte an meine Mutter und ihr unbeholfenes Gerede über Vögel Am Telefon konnte man immer noch einen Rückzieher machen und sich der Meinung des Gesprächspartners anschließen, aber in einem Brief, wo jedes Wort in Stein gemeißelt war, ging das nicht so leicht.

»Liebe Tante Mildrcd.« »Meine liebste Tante Mildred.« Ich schrieb, dass Griechenland großartig wäre, strich es wieder durch und erklärte, Griechenland sei ganz okay. Das, überlegte ich, könnte als Undankbarkeit ausgelegt werden, und ich fing noch mal von vorn an. »Griechenland ist alt«, schien mir passend, bis mir auffiel, dass sie mit ihren sechsundfünfzig Jahren nicht viel jünger war als der Tempel von Delphi. »Griechenland ist arm«, schrieb ich. »Griechenland ist heiß.« »Griechenland ist interessant, vermutlich aber weniger interessant als die Schweiz.« Nach zehn Anläufen gab ich auf. Bei meiner Rückkehr nach Raleigh nahm meine Mutter eins meiner Mitbringsel, einen nackten Diskuswerfer aus Salzteig, und schickte ihn mit einem Gruß von mir, den ich unter Zwang am Küchentisch zu schreiben hatte, mit der Post an meine Tante. »Liebe Tante Mildred. Vielen Dank!« Zugegeben, nicht unbedingt das Werk eines schlummernden Genies, aber ich nahm mir vor, in der kommenden Woche einen richtigen Brief zu schreiben. In der kommenden Woche verschob ich es und danach wieder und wieder, bis es irgendwann zu spät war.

Ein paar Monate nach meinen Ferien in Griechenland besuchten meine Mutter, ihre Schwester und ihr homosexueller Cousin Tante Monie zu Hause in Gates Mills. Ich hatte von diesem Cousin gehört, Positives von meiner Mutter, Abfälliges von meinem Vater, der besonders eine Geschichte immer wieder gerne erzählte. »Wir waren mit ein paar Leuten in South Carolina. Ich, deine Mutter, Joyce und Dick und dieser Cousin, dieser Philip, ja. Wir waren im Meer schwimmen und...« An dieser Stelle prustete er immer los. »Also, wir waren schwimmen, und als wir zurück im Hotel sind, klopft Philip an die Tür und fragt, es ist nicht zu fassen, fragt tatsächlich, ob er von deiner Mutter den Föhn leihen kann.« Das war’s. Ende der Geschichte. Er hatte ihn sich nicht hinten reingeschoben oder sonst was damit angestellt, sondern ihn bloß auf die gebräuchliche Art benutzt, aber trotzdem kam mein Vater einfach nicht drüber weg. »Ich meine, einen Föhn! Das muss man sich nur mal vorstellen!«

Ich war fasziniert von Philip, der irgendwo im Mittleren Westen eine Collegebibliothek leitete. »Er hat viel von dir«, sagte meine Mutter. »Eine Leseratte. Hat seine Nase ständig in Büchern.« Ich war ganz bestimmt keine Leseratte, hatte es aber geschafft, diesen Eindruck bei ihr zu erzeugen. Wenn ich gefragt wurde, was ich den ganzen Nachmittag über getrieben hatte, sagte ich nie: »Ach, masturbiert«, oder: »Mir vorgestellt, wie es aussähe, wenn ich mein Zimmer scharlachrot streichen würde.« Stattdessen sagte ich, ich hätte gelesen, und sie kaufte es mir jedes Mal ab. Sie wollte nie wissen, wie das Buch hieß oder woher ich es hatte, sondern sagte immer nur: »Na, fein.«

Weil sie nicht weit voneinander entfernt lebten, sahen Philip und Tante Monie sich häufig. Gelegentlich gingen sie auch gemeinsam auf Reisen, mal zu zweit, mal in Begleitung von Philips Freund, ein Wort, das meine Mutter stets in Anführungszeichen gebrauchte, nicht aus Böswilligkeit, sondern als Hinweis, dass der Ausdruck mehr als eine Bedeutung hatte und dass die zweite Bedeutung weit interessanter war als die erste. »Sie haben ein entzückendes Haus«, sagte meine Mutter. »Es liegt an einem See, und sie überlegen, sich ein Boot anzuschaffen.«

»Das kann ich mir denken«, sagte mein Vater, und dann kam wieder einmal die Geschichte mit dem Föhn. »Das muss man sich nur mal vorstellen! Ein Mann, der sich die Haare föhnen will.«

Philip und Tante Monie teilten eine Vorliebe für gehobene Genüsse: Sinfonien, die Oper, klare Suppen. Ihre Beziehung war die von kinderlosen, kultivierten Erwachsenen, die einen Satz zu Ende bringen konnten, ohne dass ihnen jemand mit einem Ausflug zum Kwik Pik oder einem Vorschuss auf das Taschengeld für das kommende Jahr in den Ohren lag. Ich konnte meine Mutter schwerlich schief ansehen, weil sie Kinder hatte, aber ich wünschte mir, sie hätte nur eins, mich, und wir würden außerhalb von Cleveland wohnen. Wir mussten uns beliebt machen und bereitstehen, wenn es mit Tante Monie zu Ende ginge, was, wie ich mir vorstellte, jeden Tag sein konnte. Tante Joyce flog mittlerweile dreimal im Jahr nach Ohio und unterrichtete meine Mutter am Telefon über den Stand der Dinge. Sie berichtete, dass sie immer schlechter auf den Beinen sei, dass Hank im Haus eins von diesen Geräten eingebaut habe, mit dem man sitzend die Treppe rauf- und runtergefahren wurde, und dass Mildred, so musste man das wohl sagen, geistig zerrüttet sei.

Als Tante Monie kein ganzes Lammkotelett mehr essen konnte, traf meine Mutter Vorkehrungen für einen persönlichen Besuch. Ich war davon ausgegangen, sie würde ihre Schwester oder den homosexuellen Philip mitnehmen, doch stattdessen durften Lisa und ich mit. Wir fuhren über ein verlängertes Wochenende Mitte Oktober. Tante Monies Fahrer wartete am Gepäckkarussell auf uns und begleitete uns nach draußen, wo der Cadillac wartete. »Oh, bitte«, sagte meine Mutter, als er sie nach hinten auf den Rücksitz bugsieren wollte. »Ich sitze vorne, und kein Wort mehr darüber.«

Hank machte Anstalten, ihr die Tür zu öffnen, aber sie war schneller. »Und schenken Sie sich Ihr ›Mrs. Sedaris‹. Ich heiße Sharon, kapiert?« Sie gehörte zu der Sorte von Menschen, die mit jedem ins Gespräch kommen, nicht in einer der Situation angemessenen klaren und zielgerichteten Art, sondern allgemeiner, zwangloser. Hätte man sie zu einem Interview mit Charles Manson gelassen, hätte sie anschließend vermutlich gesagt: »Ich wusste gar nicht, dass er Bambus mag!« Es war zum Verrücktwerden.

Wir verließen das Flughafengelände und fuhren durch ödes Land. Männer beobachteten von rostigen Brücken herab, wie unter ihnen auf den Gleisen verdreckte Güterzüge rangierten. Schlote stießen schwarze Rauchwolken aus, während Hank uns lang und breit auseinander setzte, wie er Schinken räucherte. Ich wollte wissen, wie es war, für Tante Monie zu arbeiten, aber meine Mutter fuhr sofort dazwischen. »Schinken!«, sagte sie. »Also nun sprechen Sie meine Sprache.«

Die Landschaft wurde allmählich ansehnlicher, und als wir Gates Mills erreichten, war die Welt wie gemalt. Herrliche Bäume mit wuchtigen Stämmen umstanden Häuser aus Stein und getünchten Ziegeln. Ein Paar in leuchtend roten Jacken ritt auf Pferden mitten auf der Straße, und Hank fuhr langsam vorbei, um die Tiere nicht zu erschrecken. Wir befinden uns, sagte er, in einem Vorort, und ich dachte, er benutze das falsche Wort. Vorort bedeutete Holzhäuser und Straßen, die nach den Gattinnen und Freundinnen der Planer benannt waren: Laura Drive, Kimberly Circle, Nancy-Ann-Sackgasse. Wo waren die Boote und Wohnmobile vor der Haustür, die Briefkästen in der Form von Höhlen, Bankfächern oder Iglus?

»Und... stopp«, flüsterte ich, als der Wagen eine unmerklich bescheidenere Version von Windsor Castle passierte »Und... stopp.« Ich hatte Angst, wir könnten an dem Prunkstück vorbeifahren und in einer gesichtslosen Gegend wie bei uns zu Hause landen. Hank fuhr trotzdem weiter, und ich fürchtete schon, Tante Monie gehörte zu der Sorte Reiche, die das schlechte Gewissen plagt Von ihnen las man manchmal in der Zeitung, sie arbeiteten freiwillig in sozialen Brennpunkten und taten auch sonst alles, um bloß nicht aufzufallen. Das Gespräch hatte sich von Schinken auf Würste verlagert und war nun versuchsweise beim Thema Grillen gelandet, als der Cadillac von der Straße abbog und auf das zweifellos edelste Haus am Platze zusteuerte. Es war die Sorte Gebäude, wie man sie auf der Umschlagseite eines Collegewerbeprospekts findet: das Dekanatsgebäude oder die Ruhmeshalle. Efeu rankte an Steinmauern empor, und Fensterscheiben in der Größe von Spielkarten glitzerten in der Sonne. Sogar die Luft roch würzig nach faulendem Laub, durchsetzt mit einer feinen Note, die ich für Myrrhe hielt. Es gab keinen Irrgarten oder einen Brunnen mit den Ausmaßen eines Gartenteichs, aber der Rasen war makellos gepflegt und umschloss ein zweites, kleineres Haus, das Hank als »die Remise« bezeichnete. Er lud unsere Taschen aus dem Kofferraum, und wir standen wartend daneben, als die beiden Reiter vorbeiritten und zum Gruß mit der Hand an ihre Samtkappen tippten. »Hört ihr das?«, fragte meine Mutter. Sie schlug ihren Mantelkragen eng um den Hals. »Findet ihr das Geklapper von Pferdehufen nicht auch himmlisch?«

Das taten wir.

Ein Dienstmädchen namens Dorothy trat aus dem Haus und begrüßte uns, und als sei meine Schwester blind und nicht in der Lage, solche Wunder mit eigenen Augen zu sehen, drehte ich mich zu ihr und flüsterte: »Sie ist weiß. Und sie trägt Dienstkleidung«

Die Dienstmädchen in Raleigh trugen vielleicht Hosenanzüge oder ausrangierte Schwesternkittel, aber das hier war das einzig Wahre: ein gestärktes schwarzes Kleid mit weiß abgesetzten Ärmelaufschlägen und weißem Kragen. Außerdem trug sie eine Schürze und eine etwas unvorteilhaft wirkende Kappe, die wie ein kleines Kissen auf ihrem Kopf thronte.

Gewöhnliche Dienstmädchen murmelten leise vor sich hin, aber Dorothy sprach laut und deutlich. »Mrs. Brown ruht noch«, sagte sie. »Mrs. Brown wird in Kürze hier sein.« Wie bei einer Sprechpuppe, schien sich ihr Beitrag zur Konversation auf wenige Sätze vom Band zu beschränken. »Ja, Ma’am«, »Nein, Ma’am«, »Ich lasse den Wagen vorfahren.« Bis Mrs. Brown aufgestanden war, wurden wir mit Räucherlachsschnittchen und Kartoffelsalat verpflegt. Ich schlug vor, wir sollten uns ein wenig umsehen oder zumindest einen Fuß außerhalb der Küche setzen, aber mein Vorhaben stieß auf wenig Gegenliebe. »Mrs. Brown ruht noch«, sagte Dorothy. »Mrs. Brown wird in Kürze hier sein.« Es dämmerte bereits, als Tante Monie in der Küche anrief und wir ins Wohnzimmer vorgelassen wurden.

»Was für ein Albtraum, hier Staub zu wischen«, sagte meine Mutter, was mir erschreckend fantasielos vorkam. Der ganze Sinn eines gediegenen Lebensstils war doch, dass andere sich um die Instandhaltung kümmerten, die Sofatischchen polierten und den Dreck aus den Ritzen der Sessel mit den Löwenpranken kratzten. Davon abgesehen, hätte ich um nichts in der Welt hier Staub wischen mögen. Einen Lampenschirm oder auch zwei vielleicht, aber dies erinnerte an einen Ausstellungsraum im Museum, der mit einer Kordel abgesperrt ist und bei dem das Mobiliar in kleinen Grüppchen zusammensteht wie die Gäste auf einer Stehparty. Die Wände waren mit gestreiften Satintapeten bezogen, und die Vorhänge reichten von der Decke bis zum Fußboden, eingerahmt von etwas, das sich später als Girlanden entpuppte. Der Stuhl mit dem Nachttopf und der Klapptisch passten nicht ganz dazu, aber wir taten so, als bemerkten wir sie nicht.

»Mrs. Brown«, schmetterte Dorothy, woraufhin wir uns dem Geräusch knirschender Zahnräder zuwandten und uns am unteren Treppenpfosten versammelten, um dem langsam herabschwebenden Sitz zuzusehen. Die Tante Monie, die ich zehn Jahre zuvor kennen gelernt hatte, war zwar eine gebrechliche, gleichwohl aber immer noch ausreichend kräftige Person gewesen, um auf dem Sofakissen eine Delle zu hinterlassen. Das Persönchen, das da jetzt die Treppe herab gerumpelt kam, schien kaum schwerer als ein Hundewelpe zu sein. Sie war immer noch elegant gekleidet, aber ausgemergelt, und ihr fast kahler Kopf hing wie eine schrumpelige Zwiebel auf ihren Schultern. Meine Mutter nannte ihren Namen, und nachdem der Sitz festen Boden erreicht hatte, starrte Tante Monie sie eine Weile an.

»Ich bin’s, Sharon«, wiederholte meine Mutter. »Und das sind zwei von meinen Kindern. Meine Tochter Lisa und mein Sohn David.«

»Deine Kinder?«

»Nun, zwei von meinen Kindern«, sagte meine Mutter. »Die beiden ältesten.«

»Und du bist?«

»Sharon.«

»Sharon, richtig.«

»Du hast mir vor ein paar Jahren eine Reise nach Griechenland spendiert«, sagte ich. »Erinnerst du dich? Du hast den Flug bezahlt, und ich habe dir die vielen Briefe geschrieben.«

»Ja«, sagte sie. »Briefe.«

»Ganz lange Briefe.«

»Ganz lange.«

Alle Schuldgefühle waren mit einem Mal verschwunden. An ihre Stelle war die Angst getreten, sie könnte uns in ihrem Testament übergangen haben. Was mochte in ihrem krausen Kopf vorgehen? »Mom«, flüsterte ich. »Mach, dass sie sich an uns erinnert.«

Wie sich herausstellte, war Tante Monie weit aufgeweckter, als es auf den ersten Blick schien. Namen waren nicht ihre Stärke, aber sie war unglaublich scharfsinnig, zumindest was mich betraf.

»Wo steckt der Junge?«, fragte sie meine Mutter, sobald ich aus dem Zimmer ging. »Hol ihn sofort zurück. Ich mag es nicht, wenn jemand in meinen Sachen schnüffelt.«

»Oh, ich bin sicher, er schnüffelt nicht in fremder Leute Sachen«, sagte meine Mutter. »Lisa, geh und sieh nach deinem Bruder.«

Tante Monies zweiter Mann war Großwildjäger gewesen und hatte neben dem Wohnzimmer einen Ausstellungsraum für seine Trophäen eingerichtet, eine Art Arche Noah der Präparierkunst. Zur Abteilung der Großkatzen gehörten Schneeleoparden, weiße Tiger, ein Löwe und zwei Panther, die sich mitten im Sprung befanden. Bergziegen stießen vor dem Couchtisch die Hörner gegeneinander. Eine Wölfin lauerte hinter dem Sofa einer Hirschkuh auf, und neben dem Gewehrfutteral hob eine Grizzlybärin ihre Pranke, um ein zwischen ihren Beinen kauerndes Junges zu schützen Außer den Tieren gab es noch aus Tieren gefertigte Gegenstände; einen Hocker aus einem Elefantenfuß, Aschenbecher aus Tierhufen, eine aus dem Bein einer Giraffe gearbeitete Stehlampe. Was für ein Albtraum, hier Staub zu wischen.

Ich entdeckte den Raum zuerst, als Tante Monie gerade ein Bad nahm, setzte mich auf eine mit Zebrafell bezogene Ottomane und verspürte zugleich Neid und Paranoia: Tausend Augen sahen einen an, und ich wollte sie alle. Gezwungen zu wählen, hätte ich mich für den Gorilla entschieden, aber meine Mutter erklärte, die komplette Sammlung sei bereits einem kleinen Naturkundemuseum irgendwo in Kanada versprochen. Auf meine Frage, wozu Kanada noch einen weiteren Elch brauche, zuckte sie nur mit den Schultern und sagte, ich sei morbid.

Wenn ich aus dem Trophäenzimmer vertrieben wurde, ging ich außen ums Haus herum und spähte durchs Fenster. »Wo steckt er?«, fragte Tante Monie. »Was heckt er wieder aus?«

Eines frühen Abends, ich hatte zuvor die Trophäen durchs Fenster betrachtet, schlich ich zwischen den Büschen vor dem Haus umher und sah, wie Mrs. Brightleaf, die als Halbtagspflegekraft eingestellt war, Tante Monies Lammkotelett in kleine Bissen zerteilte. Die beiden saßen an dem kleinen Klapptisch im Wohnzimmer, gleich unter dem Porträt von Ehemann Nummer zwei, der mit einem Bein auf einem erlegten Nashorn kniete. Meine Mutter kam aus der Küche ins Zimmer, und ich war überrascht, wie fremd und deplatziert sie zwischen dem Pflegepersonal und den muschelförmigen Couchtischen wirkte. Bisher hatte ich immer angenommen, man brauche lediglich ein vollständiges Gebiss, um sich frei zwischen den sozialen Klassen zu bewegen und ohne große Anstrengung vom Hof ins Herrenhaus zu wechseln. Jetzt schien sich dies als Irrtum zu erweisen. Ein Leben wie das von Tante Monie erforderte nicht nur viel Übung, sondern auch ein natürliches Talent zur Selbstdarstellung, etwas, das nicht allen Leuten gegeben ist. Meine Mutter schwenkte ihr Cocktailglas, und als sie sich lachend auf den Nachttopfstuhl meiner Tante setzte, wusste ich, dass alles umsonst gewesen war.

Sonntagnachmittag brachte Hank uns zurück zum Flughafen. Tante Monie setzte ihren unaufhaltsamen Verfall fort und starb am ersten Frühlingstag. Meine Eltern nahmen an der Beerdigung teil und machten sich einige Monate später noch einmal auf den Weg nach Cleveland, um die Erbschaft zu regeln, mit den Anwälten zu sprechen und dies und das zu erledigen. Sie flogen mit dem Flugzeug hin und kamen eine Woche später mit dem silbernen Cadillac zurück, meine Mutter mit roten Hitzestreifen über den Knien von der Felldecke. Wie es aussah, hatte man sich an sie erinnert – und zwar herzlich –, aber sie war durch nichts dazu zu bewegen, die genaue Summe zu nennen.

»Ich sage eine Zahl, und du zeigst mit dem Daumen nach unten oder nach oben«, schlug ich vor. »Eine Million?«

»Ich verrate nichts.«

»Anderthalb Millionen?«

Ich weckte sie vorsichtig mitten in der Nacht, in der Hoffnung, sie würde im Halbschlaf reden. »Zwei Millionen? Siebenhunderttausend?«

»Ich verrate nichts.«

Ein Freund gab sich am Telefon als Mann vom Finanzamt aus, aber meine Mutter wusste gleich, was los war. Leute vom Finanzamt hörten im Dienst offenbar selten Jethro Tull, und sie sagten auch nie am Telefon: »Ich habe da nur eine ganz kurze Frage.«

»Aber ich muss es wissen, damit ich es weitersagen kann...«

»Genau deshalb verrate ich es dir nicht«, sagte meine Mutter.

Ich arbeitete zu der Zeit in einer Caféteria, ging aber außerdem einmal in der Woche zum Babysitten zu einer Familie, die ich bereits seit der siebten Klasse kannte. Die Kinder verachteten mich, aber ihre Abneigung hatte etwas so Vertrautes, beinahe Tröstliches, dass ihre Eltern mich weiter kommen ließen. Ihr Kühlschrank war stets gefüllt mit Delikatessen: Bratenscheiben und Käse aus dem Feinkostladen, Artischockenherzen im Glas. Als ich eines Abends von der Frau mein Geld bekam, sagte ich, meine Großtante sei gestorben, und wir hätten jetzt einen Cadillac und eine Schoßdecke aus Fell. »Geld haben wir auch bekommen«, sagte ich. »Eine ganze Menge.« Ich dachte, die Frau würde mich in den Club der Leute mit gut gefüllten Kühlschränken aufnehmen, doch sie verdrehte bloß die Augen. »Einen Cadillac«, sagte sie. »Mein Gott, typisch nouveau riche.«

Ich war mir nicht sicher, was nouveau riche bedeutete, aber es klang nicht besonders verlockend. »Dieses kleine Miststück«, sagte meine Mutter, als ich ihr die Geschichte erzählte, und dann schnauzte sie mich an, warum ich überhaupt davon angefangen hätte. Eine Woche später war der Cadillac verkauft. Ich gab mir dafür die Schuld, doch es stellte sich heraus, dass meine Eltern ohnehin vorgehabt hatten, den Wagen loszuwerden. Meine Mutter kaufte sich ein paar schicke neue Kostüme. Sie füllte den Kühlschrank mit Aufschnitt aus der Feinkostabteilung, aber sie kaufte weder einen Diamanten noch ein Sommerhaus am Strand oder irgendeins von den anderen Dingen, die wir erwartet hatten. Eine Zeit lang diente das Geld als Drohkulisse. Hatten sie und mein Vater sich wegen irgendeiner Kleinigkeit gestritten, und mein Vater ging lachend aus dem Raum – seine Art, einen Streit zu beenden, indem er so tat, als sei der andere nicht zurechnungsfähig und alles weitere Reden zwecklos –, rief meine Mutter ihm hinterher: »Glaube bloß nicht, ich säße hier fest! Da bist du mächtig schief gewickelt, mein Freund.« Und hatte ein Nachbar sie geschnitten, oder war sie in einem Geschäft wie Luft behandelt worden, kam sie nach Hause, knallte die Faust auf die Küchentheke und zischte: »Den Scheißkerl könnte ich mit links in die Tasche stecken.« Oft genug hatte sie sich vorgestellt, solche Sätze zu sagen, doch jetzt, da sie es konnte, war sie offenbar enttäuscht, wie wenig Befriedigung sie einem verschafften.

Ich glaube, es war Tante Monies Geld, das für meine Miete aufkam, als ich ans Art Institute nach Chicago ging. Und es war vermutlich ebenso ihr Geld, das meiner Schwester Gretchen den Besuch der Rhode Island School of Design und meiner Schwester Tiffany die Unterbringung in einer furchtbaren, dafür aber sündhaft teuren Jugenderziehungsanstalt in Maine bescherte. Es sorgte dafür, die Kinder meiner Mutter aus dem Süden fortzubringen, was für sie allemal ein Aufstieg war. Der Rest des Geldes wurde von meinem Vater verwaltet, einem Alchemisten auf dem Börsenparkett, der Gold in einen Briefkasten voller Jahresabschlussberichte verwandeln konnte, an denen allein er seine Freude hatte.

Was die Präparierkunst angeht, verzichtete das kanadische Museum auf die Übernahme der Sammlung meines Großonkels. Da eine Versteigerung der Exponate zu aufwändig erschien, gingen die Tiere zusammen mit dem aus ihnen hergestellten Nippes an Hank.

»Ihr habt was?«, sagte ich zu meiner Mutter. »Ich glaube, ich habe da was nicht richtig verstanden. Was habt ihr gemacht?« Es folgte ein Anruf, und ich bekam eine Decke aus Bärenfell zugeschickt, die mehrere Jahre lang den Boden meines viel zu kleinen Zimmers zierte. Es war sowieso bescheuert, ein Bärenfell als Bettvorleger zu haben. Ging man in die eine Richtung, stolperte man über den Schädel, kam man zurück, blieb man mit dem Fuß im geöffneten Maul hängen.

Am ersten Abend, den ich allein mit meinem Bären verbrachte, schloss ich meine Zimmertür zweimal ab und legte mich nackt auf ihn, wie man es manchmal in Zeitschriften sah. Ich hatte mir vorgestellt, es müsste ein großartiges Gefühl sein, der besiegte Pelz auf meiner nackten Haut, doch empfand ich nichts außer einer schleichenden Paranoia. Jemand beobachtete mich, kein Nachbar oder eine meiner Schwestern, sondern Tante Monies zweiter Mann, dessen Porträt bei ihr an der Wand gehangen hatte. Vom Hals an aufwärts sah er Teddy Roosevelt täuschend ähnlich – die glänzende Nickelbrille, der monströse Walrossschnauzbart. Der Mann hatte sich im glühend heißen Buschland Afrikas an Weißschwanzgnus herangepirscht, und jetzt ruhte sein beutehungriger Blick auf mir: einem schlaksigen Siebzehnjährigen mit riesigen Brillengläsern und einem Türkisarmreif, der mit seinem dürren, pickligen Po die Großwildjägerei lächerlich machte. Es war kein sehr angenehmes Bild, das mich deshalb noch eine ganze Weile verfolgte.

In ihrem zweiten Collegejahr nahm Lisa das Fell mit nach Virginia, wo es auf dem Boden ihrer Studentenbude herum gammelte. Wir hatten ausgemacht, dass es sich um eine Leihgabe handelte, doch am Ende des Frühjahrssemesters schenkte sie es ihrer Zimmernachbarin, die auf der Heimfahrt nach Pennsylvania tödlich mit ihrem Wagen verunglückte. Als ich die Nachricht hörte, stellte ich mir vor, wie die Eltern halb wahnsinnig vor Kummer das Bärenfell im Kofferraum des Wagens ihrer Tochter fanden und sich fragten, was es mit dem Leben ihrer Tochter oder mit wessen Leben auch immer zu tun hatte.